Seit Jahren wird das Vorliegen einer Sprachentwicklungsstörung bei Kindern zu spät erkannt
Bei Verdacht auf eine Sprachentwicklungsstörung sollten Kinder so früh wie möglich umfassend logopädisch untersucht werden, meint Wiebke Scharff Rethfeldt von der Hochschule Bremen.
Die Sprachentwicklung stellt für alle Kinder eine komplexe und damit störanfällige Aufgabe dar. Eine Sprachentwicklungsstörung (SES) kann ganz unterschiedliche Ursachen haben. Bei rund 10 Prozent aller Kinder tritt sie primär ohne eine andere Entwicklungsauffälligkeit auf, bei weiteren rund 10 Prozent ist sie als sekundär ursächlich zum Beispiel auf Hörstörungen oder Syndrome zurückzuführen. Bei der primären Form geht man von einer genetischen Disposition aus, die die Sprachverarbeitung erschwert. So tritt sie in einigen Familien häufiger auf. Als unwahrscheinlich gilt jedoch, dass man sie anerziehen kann. Auch Mehrsprachigkeit kann keine SES verursachen. Dass Sprachentwicklungsstörungen in bildungsfernen Familien häufiger auftreten zeigt den Zusammenhang, dass diese Bildungsferne auch auf eine SES zurückgeht, die in der Vergangenheit nicht frühzeitig erkannt oder behandelt wurde, als Vater oder Mutter im Kindesalter waren. Seit Jahren wird das Vorliegen einer SES bei Kindern zu spät erkannt.
Dies verdeutlichen sowohl die unverändert hohen Zahlen von mehr als 20 Prozent als sprachgestört diagnostizierten Kinder eines Jahrgangs zum Zeitpunkt der Schuleingangsuntersuchung, als auch die seit Jahren unverändert bestehenden Verordnungsgipfel um das sechste Lebensjahr in den Berichten der Krankenkassen. Die Mehrheit der Kinder erhält mit fünf Jahren viel zu spät eine Verordnung für eine logopädische Therapie. Kinder mit Verdacht auf eine SES sollten umgehend umfassend sprachdiagnostisch untersucht werden, um beim Vorliegen einer SES frühzeitig Maßnahmen wie Frühtherapie und Elterntraining einzuleiten, um die Verfestigung der Störung zu verhindern und Spätfolgen wie Lese-Rechtschreibstörungen zu vermeiden. Sprachförderung wie zum Beispiel in einer Kindertageseinrichtung, kann keine SES kurieren.
Die kinderärztlichen Vorsorgeuntersuchungen bieten eine orientierende Einschätzung der kindlichen Sprachfähigkeiten. Bei Verdacht auf eine SES sollten die Kinder dann so früh wie möglich, das heißt ab dem 24. Lebensmonat, umfassend logopädisch untersucht werden. Der frühzeitige Ausschluss einer möglichen Sprachentwicklungsstörung ist für alle Kinder, sowohl einsprachige als auch mehrsprachige Kinder, einschließlich Kindern mit Migrationserfahrung, mit Blick auf die gesellschaftliche Teilhabe und damit auch auf die gesundheitliche und soziale Chancengleichheit entscheidend.
(Weser Kurier)